Einführende Bemerkungen und Beobachtungen zur gleichnamigen Ausstellung von kunstthurgau in der alten Schuhfabrik Märwil 2. September 2022, Kurt Schmid Menschen in Bewegung „Schlenderer, Bummler, Stehenbleiber, Sichumdreher, Grimassenschneider, Wegbegleiter, Zickzackgeher, Wegbeschreiter, Imkreisumdreher, Kinderwagenschieber, Fortschreiter, Übersteiger, Handychecker, Selfiemaker, Plakataufhänger, Tagtraumfänger, Nieankommer, Wegrandpinkler, Nachhauseeiler, Dosengingger, Fotoknipser, Souvenirverkäufer, Kindereinfänger …. kommen an mir vorbei, irgendwoher, irgendwohin, sind unterwegs.“ Nein, das ist kein Gedicht und auch kein Text von mir. Diese fein beobachteten und formulierten Sprachwendungen habe ich im Eingabeformular gefunden, welches Daniela Vincenz für diese Ausstellung eingereicht hat. Und man fragt sich selbstverständlich sofort, wie sie das bildnerisch umsetzt und darstellt. Wie sich alle Teilnehmenden gefragt haben, gefragt haben müssen, wie sie mit der thematischen Vorgabe umgehen wollen: In etwa, möglichst genau, pro forma, geflissentlich, nonchalant - oder gar nicht? Und stellen sie sich vor, diese Menschen in Bewegung wären Künstlerinnen (Ich wähle die weibliche Form als Ergänzung zu den vorgenannten männlichen Formen): Wegbeschreiterinnen, Sichimkreisumdreherinnen, Fortschreitende, Forschrittliche, Traumfängerinnen, Plakataufhängerinnen und eben nicht Souvenirverkäuferinnen, sondern Kunstschaffende unterwegs. Auch Künstlerinnen und Künstler sind unterwegs, was denn sonst, und sie dokumentieren, wie sie das tun, in dieser Zeitkapsel, welche die alte Schufabrik Märwil nun einmal darstellt, bis auch sie verschwindet, wie bereits mit wenigen Überbleibseln, die Schuhe verschwunden sind, die hier gefertigt worden waren. Viele Menschen und insbesondere auch Kinder sind auf diesen Schuhen unterwegs gewesen. Das ist allerdings schon so lange her, dass heute wohl niemand mehr mit diesem Schuhwerk an den Füssen anzutreffen sein wird. Aus den Bekleidungsutensilien sind, wenn sie denn überlebt haben, Objekte geworden. Einige der Kunstschaffenden greifen das auf. Der Ort, und was an Schuhen und Werkzeugen oder Einrichtungen übrig geblieben ist, lädt zur Objektkunst oder zu Installationen förmlich ein. Oder aber es werden Bilder und Objekte platziert, die weniger mit dem Ort zu tun haben als mit dem Werk der Ausstellenden. Aber auch diese fügen sich in die Räumlichkeiten, ihren Charme, ihren Groove ein. Die beiden alten Industriehallen bilden so etwas wie einen Resonanzkörper, dem man sich nicht entziehen kann, als Künstlerin und Künstler nicht und auch als Betrachter und Besucherin nicht. Kunst ist hier also Resonanzraum auf Zeit der dreifachen Art: vom Raum zur Kunst, von der Kunst zum Raum und von Raum und Kunst zu den Betrachtenden. Abreisen, unterwegs sein, ankommen. Dieses Thema betrifft uns alle sowohl im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Wenn Jonas Rüedi und Regula Sonderegger unterwegs sind, fangen sie als Fahrende mit fotografischen Mitteln ihre Eindrücke ein. Ihre Fotos entstehen mittels bewegter Kamera, oftmals wohl aus dem Zug heraus, mit etwas überlanger Belichtung, so dass das Gegenüber der Stadtlandschaften, Gebäude usw. verschwimmt. Es überlagern sich kurz aufeinander folgende Moment zu einer fotografischen Komposition. Eis st immer ein Bild, was wir zu sehen bekommen. Es steht zwar, kann aber wie gesagt nur durch Bewegung zustandsgekommen sein. Mag sein, dass unterwegs sein bedeutet, nicht immer alles klar und deutlich zu sehen. Kann sein, dass der ästhetische Reiz dieser Fotos eben genau darin besteht, dass aus Gegenständen und Orten Texturen - auch Texturen der Befindlichkeit - werden. Kann sein, dass, wenn man dann ankommt, man wieder die Objekte in Ruhe ins Visier nimmt. Ankommen bedeutet ja nicht unbedingt stehen bleiben. Ankommen kann auch heissen, an seinem Ort, bei sich ankommen und dies deutlich spüren beziehungsweise im Kunstwerk spürbar machen. Martin Bührer fordert in seinen beiden Arbeiten auf: Go! (Go, Johnny, Go, Chuck Berry, 1959. )Und (come) back! Wer den Globus in der Hand hat, hat anscheinend die ganze Welt für eine Weltreise im Sinn. Ob man irgendwo stecken bleibt, immer noch die selbe Person ist, wenn man zurückkehrt, andere Ort und Szenerien spannender findet als die zuhause. Who cares! EdgwareRoad ist eine Undergroundstation in London, zu sehen auf einer der Fotografien von Marcel Winter. Bei ihm ist die Kamera nicht bewegt, die Plätze und Orte sind es auch nicht. Die Personen, welche sich auf ihnen bewegen sind klein, nicht als solche, sondern, weil sie von Ferne zu sehen sind. Die Kamera steht still und die Zeit scheint es ihr gleich zu tun. Auch die Kräne auf einer der Fotografien sind unbewegt in dem beinahe mystisch aufgeladenen, ästhetisch durchgearbeiteten Bild: Gegenbilder zur Hektik, Raum-Zeit-Lichtkonstellationen, vor dem Ort, am Ort, zum Ort. Who cares! Wer nicht mit leichtem Gepäck unterwegs ist, im Leben und überhaupt, Brigitte Buchholz, zeigt das eindrücklich, hat es nicht so leicht. Who cares, im Sinne, wen geht das denn überhaupt etwas an, geht hier nicht. We care! heisst die Losung, wenn sie auch nicht die Lösung der damit verbundenen Probleme eines belasteten Lebens bedeuten kann. Wer mit schwerem Gepäck unterwegs ist, hat fundamentale Probleme, kann nicht einfach die Last abgeben, braucht Solidarität, braucht keine gut gemeinte Helferhilfe, sondern gezielte Unterstützung, konkret, vor Ort, persönlich. Wenn wir also mit einer vollgepackten Einkaufstüte nach Hause kommen - dann zeigt diese Arbeit ein Gegenbild. Wir mögen den Preis für unsere Waren bezahlt hapern, auf welche Kosten dann aber andere sitzen bleiben - das ist eine ganz andere Frage. Übergange 36 Jahre lang, so heisst es, haben die Räumlichkeiten der Schuhfabrik Märwil nach der Aufgabe der Produktion beinahe unverändert überdauert. Martin Bührer ist auf seinen Spaziergängen unzählige Male an der alten Fabrik vorbeigekommen, bis er auf die Idee kam, mal nachzufragen, ob nicht hier die jetzt realisierte Ausstellung stattfinden könnte. Man hatte damals, um 1986 herum, den Betrieb nicht geräumt. Die tollen Räume mit ihrer lichtdurchfluteten Industriearchitektur standen aber nicht leer. Sie mussten erst geräumt werden. Ein gefundenes Fressen für Künstlerinnen und Künstler, welche Objekte mit Recyclingcharakter herstellen oder räumlich verortete Installationen machen! Die Räume mussten und konnten ihrem Dornröschenschlaf entrissen werden. Dafür gab es mancherlei Anknüpfungspunkte. Da waren etwa Schachteln mit dem gestiefelten Kater zu finden, Marke Lommis-Kinderschuhe samt fertigen Schuhen, Materialien und Werkzeugen zu ihrer Herstellung. Betty Kuhn hat Himmel und Hölle zu diesem Märchenthema inszeniert. Cornelia Schedlers grosse Schuhen bewegen sich in einer verzauberten Zeit und Ursula Bollack-Wüthrich (ist sie es??) hat Kinderschuhe und eine Schachtel mit dem gestiefelten Kater gefunden und inszeniert sie neu. Sonja Aeschlimann hat mit Holzformen und goldenen Oesen goldenen Prinzessinnenschuhe gefertigt und verweist mit ihnen und andern Objekten auf vergangene goldene Zeiten nicht nur der hiesigen Schuhindustrie. Elsbeth Harding hat eine Art Gebetsnische geschaffen, vor der man sich die Schuhe auszieht oder prüft, ob man in mit seinen Füssen in die eiserne Sohlenfirm passt oder nicht. All diese Objekte und Installationen irrlichtern zwischen den Zeiten. Sie sind Übergänge. Sie bilden eine Art Resonanzraum vom Heute zum Gestern, vom „Es war einmal“ zum „Jetzt!“. Von der Reminiszenz zum aktuellen Augen-Blick. Auch Räume sind unterwegs. Was für tolle Ateliers liessen sich doch hier einrichten! Die grossen Malereien mit gestischem Impuls von Helen Lang, könnten doch weiter an diesem Ort entwickelt werden! Wer würde nicht davon träumen, diese alte Fabrik mit ihrem Charme zu einem aktuellen Ort der Kunst zu machen über diese rAusstellung hinaus! Die Werkbänke sind ja noch da, viele Materialien im Estrich. Wer weiss, was sich daraus noch alles ergibt, bis auch dieses alles verschwindet. Ja, auch Räume sind unterwegs, sie ändern mit ihren Zeiten, entstehen und verschwinden - wie Kunst Kunstschaffende und ihrer Werke auf unvorhersehbare Weise ebenfalls. Es sei denn, man möchte einfach abhauen, alles zurücklassen, wie dies Walter Wetter in seiner postdadaistischen Installation verschmitzt nahelegt oder man erweckt den Fabrikladen fiktiv zu neuem Leben, wie dies Christine Hochstrasser vorführt. Oder die Räume medial neu inszenieren wie Pierre Sutter. Resonanzen innen und aussen Es besteht ein riesiger Unterschied, ob man freiwillig oder gezwungenermassen unterwegs ist. Diese Ausstellung wurde eher unter dem Aspekt der Freiwilligkeit organisiert, zu einer Zeit, als wir uns in den Medien und konkret nicht mit dem Ukrainekrieg auseinandersetzen mussten. Heute, jetzt ist die Lage anders, was als Bedrohung eher latent vorhanden war, die Klimaerwärmung etwa, ist einer expliziten Bedrohungslage gewichen. Sie wissen, wovon ich spreche. Plötzlich ist das Veränderungspotential explosiv gestiegen. Wir wissen tatsächlich nicht, wie die Welt, wohin wir reisen aber auch die Welt, die wir bewohnen, morgen aussehen wird. So bekommt denn das weisse Schiff mit den Rudern von Adrian Künzi neben dem fragilen auch archaischen Charakter - es könnte aus einer ganz anderen Kultur und Zeit stammen - zudem einen symbolischen Charakter. Unterwegs sein als Flüchtling, Unterwegssein in der Lebensbarke von Leben und Tod, Unterwegssein auf sich selbst gestellt mit ungewissem Ziel und ohne Hoffnung auf Rückkehr. Man spricht von Zeitenwende, wenn sich Ordnungen umstülpen; es sieht ganz danach aus, als ob wir heute (wieder) in einer solchen Situation stecken. Manche Besucherinnen und Besucher dieser Ausstellung werden mit dieser Haltung der Verunsicherung, ja vielleicht der Angst oder der Erwartung , Kunst, Künstlerinnen und Künstler könnten als Art Seismographen wirken, hierherkommen. Es gehört zur Stärke gleichzeitig aber auch Problematik dieser Ausstellung, dass sie nicht plakativ und direkt vorab das Ukrainemotiv aufgreift, wie das heute allerorten geschieht. Stark ist das, weil es sich verbietet, Leid, Bedrohung, Krieg zur eigenen künstlerischen Aussage zu machen, wenn man nicht direkt davon betroffen ist. Zu stark wäre hierbei die Gefahr ins Plakative abzugleiten. Und stark auch ist es, wenn sich Positionen wie etwa die von Ursula Fehr oder Marianne Jost-Schäffeler nicht verbiegen lassen. Ihre, Ursula Fehrs, kreatürlich-vegetabilen Bronzen trotzen der Zeit. Auch Marianne Jost minimalistische Objekte entziehen sich ihr und verweisen darauf, dass wir es sind, die sich wandeln und nicht die Artefakte ihrer Kunst.Es gibt nach wie vor die Resonanz gegen und mit dem Aussen aber eben auch mit dem Innen, dem geheimnisvollen inneren Kern, von dem aus der Impuls zu schöpferischem Tun erwachsen kann. Auch die Bilder von Bianca Frei-Baldegger, um nur diese drei zu nennen, haben etwas von dem. Oder die zwischen Innen und Aussen angesiedelten, symbolischen Bilder von Philippe Mahler. Martin Maeder zeigt mit seinen Videos nicht zuletzt, dass dem in der Geschichte der Kunst, seit jeher so war. Immer geht es, um es frei nach mit Handke zu sagen, um die Innensicht der Aussensicht der Innensicht. Problematisch, ja, etwas problematisch, ist das auch. Denn es wird wohl unmissverständlich klar, dass mit dieser Position der Avantgardecharakter der so genannt modernen Kunst aufgegeben wird. Diese Form von Kunst weist nicht voraus. Sie weist auch nicht zurück und ist nicht von gestern. Sie weist vielmehr nach innen, und rührt, ich habe es angetönt, an den inneren Kern der Kreativität und nicht den äusseren Anlass. Mit der Aufgabe des Neuigkeitszwangs der modernen Kunst ist aber auch die postmoderne Beliebigkeit obsolet geworden. Und das gilt wohl für die gesamte zeitgenössische Kunst, soweit man sie überblicken kann, überhaupt. Man kann und muss vielleicht auch, sowohl im Alltag als auch in der Kunst vermehrt Position beziehen und das darum, weil uns eben nicht alles gleichgültig, gleich gültig oder egal ist. Wie wir im praktischen Leben gegenüber unseren Problemen Position beziehen und was uns die Kunst als Positionen zeigt - das ist die Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Diese Ausstellung, ich schliesse jetzt, macht uns auf beispielsweise Art Mut dazu.
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June 2023
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